Grenzgang mittendrin

Die Technik macht es möglich. Denn wo beispielsweise Pink Floyd einst zu "Dark Side Of The Moon" wochenlang an einer einzigen Bandschleife, etwa dem Kassenklingeln in "Money" bastelten und schraubten, lassen sich Loops heute in digitaler Form generieren und herstellen. Womit sich Möglichkeiten auftun, die schier unendlich scheinen, was uns Mastermind Dirk Schlömer (Das Zeichen, Stella Maris, Ton Steine Scherben, Ornah-Mental) zusammen mit seinem Jugendfreund Adrian Wellmann auf überaus anspruchsvoll- interessante Art in seinem neuen Projekt "Klangraum Berlin" veranschaulicht. Bis auf einige hinzuaddierte Gitarren und einen Sprecher wurden nämlich alle hier zu hörenden Sounds und Rhythmen aus an verschiedenen Plätzen Berlins aufgenommenen Alltagsgeräuschen zusammengesetzt, die dann auch auf diese Weise eine Art musikalische Ortsbegehung und Bestandsaufnahme liefern, was den "Klangraum Berlin" aber gerade zu einer Entdeckungsreise der ganz besonderen Art werden läßt.

SG: Das Konzept ist recht außergewöhnlich und bricht mit gängigen Regeln des Musikbiz. Ist "Klangraum Berlin" noch länger mit Popmusik im weitesten Sinn in Verbindung zu bringen?

Wellmann: Ja und nein. Das kommt darauf an, was man unter Popmusik versteht. Unsere Zeit ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, daß die Genregrenzen verschwimmen und in den Zwischenräumen interessante neue Dinge entstehen.

Schlömer: Ich denke, es hat in der Geschichte der Popmusik soviel sogenannte anspruchsvolle Musik gegeben, die plötzlich und unerwartet das Interesse eines großen Publikums fand und umgekehrt soviel stumpfsinnige, angeblich kommerzielle Musik die sang- und vor allem auch klanglos wieder verschwand, daß es wirklich schwer ist, eine klare Grenze zu ziehen. Unser Klangraum hat, wenn man sich erst einmal eingehört hat, sehr einprägsame, sehr groovige Passagen. Trotzdem gehen wir natürlich eher davon aus, daß eine CD voller Stadtgeräusche eher den wirklich Interessierten anspricht.

SG: Wie kam eigentlich die Konstellation Schlömer / Wellmann zustande?

Wellmann: Zuerst einmal muß man wissen, daß wir alte Freunde sind - Schulfreunde. Wir kennen uns seit der Sexta - sagt man das überhaupt noch? Wir waren immer im regen geistigen Austausch. Und weil Dirk ja schon seit jeher Musiker ist, war unser liebster Focus die Symptome in der Musiklandschaft - gewissermaßen als Zeichen der Zeit. Und dies ist ja auch mein Thema als Astrologe. Es wurde einfach Zeit für einen Praxistest und eine Gemeinschaftsarbeit.

Schlömer: Für mich als jemand, der ständig Musik produziert und im Studio sozusagen lebt, besteht die Gefahr, daß vieles zur Routine wird. Das ist eigentlich der Tod von Neugier und Überraschung, was aber Kreativität ausmacht. Mit meinem alten Freund von der Seite der Überlegung und Konzeption an eine Arbeit heranzugehen war eine Herausforderung. Da es für Adrian wirklich die erste CD ist, mußte ich ihm einfach Freiräume geben, damit er Erfahrungen machen konnte. So war ich gezwungen, ganz anders an die Sache heranzugehen, sehr erfrischend!

SG: Was ist die Hauptintention hinter all dem?

Wellmann: Es gab   mehrere wichtige Telefonate - Dirk in Berlin und ich in Köln. Zu der Zeit interessierte uns gesprächsweise das Thema Transformation und Wahrnehmung. Die These war, daß die Wahrnehmung davon abhängig ist, wie man eine Sache anschaut. Es ist nämlich eine Frage des Urteils - der inneren Einstellung, ob einem eine Sache als schön oder häßlich erscheint. Großstadtlärm ist bekanntlich häßlich, im allgemeinen Urteil. Unser experimenteller Ansatz war nun, ob wir durch Hinwendung, Aufmerksamkeit und Urteilsabstinenz zu einer neuen Wahrnehmung der Stadtgeräusche kämen. Wir wollten wissen, ob es eine geheime Schönheit gibt, die sich dem Alltagsbewußtsein verbirgt, weil wir ihr nicht zugewandt und aufmerksam sind. Für mich hat sich diese Theorie in der Praxis der Arbeit am "Klangraum Berlin" voll und ganz bestätigt. Diese Musik aus den Geräuschen ist voller Schönheit und Geheimnis. Mich hat diese Erfahrung zuversichtlicher gemacht. Ich höre heute die Stadt mit anderen Ohren, da ist ein neuer spannender Aspekt hinzugekommen. Manchmal - gerade jetzt im Frühling - sitze ich in einem Cafe und lausche einfach nur und bin in einem wundersamen Klangraum der Schöpfung - immer anders, immer neu.

SG: Habt ihr die hier verwendeten Umweltgeräusche mit Vorsatz ausgewählt, d.h. gesucht und gefunden oder kamen diese eher zufällig vor euer Mikrophon?

Schlömer: Da kann man natürlich die Gegenfrage stellen: "Gibt es überhaupt Zufälle?". Konkret haben wir einfach aufgenommen, was uns beim Schlendern durch die Stadt vor`s Mikrophon kam. Aber wir haben einige Plätze ausgewählt wegen ihrer Symbolträchtigkeit. Zum Beispiel haben wir den Baulärm am damals noch in Arbeit befindlichen Holocaust-Mahnmal aufgenommen und darauf vertraut, daß dieser Ort zu uns sprechen wird, auch wenn die dort aufgenommenen Bagger und Presslufthämmer an jeder beliebigen Baustelle in Deutschland zum Einsatz kommen. Auch das hat sich für uns bestätigt, d.h. die Gedenkbaustelle klang wirklich einmalig. Wie eine Art Wasserzeichen wurden Bedeutungen hörbar und haben uns zu dem Stück geführt, wie es jetzt auf der CD ist.

SG: Ihr seid ab und zu dann doch etwas von dem Geräusch-Gesamtkonzept abgedriftet und habt auch Gitarren hierfür eingespielt. Warum?

Wellmann: Erst einmal, weil Dirk ein so wunderbarer Gitarrist ist, daß es schade wäre, ihn nicht etwas spielen zu lassen. (lacht) Am Anfang hatten wir uns so eine Art Dogma auferlegt, wie in den Lars van Trier-Filmen. Nichts sollte sein, was nicht aus den Geräuschen stammte. Aber nach den ersten erfolgreichen Bearbeitungen des Geräuschmaterials merkte ich, daß es noch ein enorm weiter Weg sein würde, Hörer dafür zu gewinnen, sich unsere Spinnereien anzuhören. Deshalb probierte ich einfach aus, zu den Loops und Sounds, die schon standen, ein paar Gitarrenphrasen einzufügen. Die Idee dabei war, eine Brücke zum Hörer - zu seiner Hörgewohnheit zu schlagen. Dirk erfand etwas, ich erfand etwas und es kam ganz organisch so etwas wie ein Dialog zwischen den Stadtgeräuschen und uns als darauf Bezug nehmende und inspirierte Menschen auf. Das war sehr aufregend, weil es sich so mühelos und leicht ergab.

Schlömer: Das Dogma, alle Sounds nur aus den Geräuschen zu generieren war spannend, auch wenn ich hier oder da dachte, wie gut würde das jetzt mit einem fetten Syntie oder Streichern zusammen klingen. Es hat sich aber gelohnt, den steinigeren Weg zu gehen, denn erst dadurch ist die Einmaligkeit des Ganzen, die Du vorhin ansprachst, entstanden. Die Gitarren hingegen sind ja deutlich als zusätzliches Instrument zu erkennen, auch für den Laien, bieten aber eine Interpretation des Materials an, wie Adrian sagte, einen Brückenschlag, deswegen steht das für mich nicht im Widerspruch zu dem Anspruch, daß der Sound aus Geräuschen entwickelt wurde.

SG: Meint ihr nicht, daß sich Großstadt-geschädigte Leute schwertun werden, sich mit einer CD mit Geräuschen aus der Großstadt zu beschäftigen?

Wellmann: Ja, wahrscheinlich schon. Aber Kunst ist immer auch anstrengend. Ganz ohne Anstrengung kann nichts gewonnen werden, denn dann ist es eben nur Konsum und das ist langweilig. Aber andersherum ist ja auch der Gewinn, sich mit einer Sache intensiver zu beschäftigen, umso größer, weil einen das verändert. Wer sich die Mühe nicht machen will - egal, das sind immer die Meisten. Wenn man von einer Zielgruppe sprechen will - worauf wir aber nie hingearbeitet haben- sind das vielleicht diejenigen, die etwas Überraschendes entdecken wollen, vielleicht so zwischen Pop und Avantgarde, zwischen Tanzmusik und Experiment. Die Müden sollen besser fernsehen. Wir hatten am Anfang mal im Spaß die Aufgabe für uns so formuliert: Healing Berlin. Gerade die Großstadtgeschädigten sind bei uns gut aufgehoben, denn wir zeigen ihnen ein anderes, schönes und spannendes Berlin, das sie in ihren Alltag möglicherweise zu einem ganz kleinen Teil integrieren können.

SG: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Sprecher Peter Deininger?

Schlömer: Ich habe ja mit Peter ein frühes deutschsprachiges Projekt namens Spiegelsplitter gehabt, das war 1981-82. Da waren auch schon etliche Geräusche integriert, wenn auch in komponierte Songs hinein. Leider war dieses Projekt mit seinen Elektro-Chansons, fließenden Übergängen und dem hohen Anspruch an die deutsche Sprache seiner Zeit   weit voraus, wenn man bedenkt, daß damals Hubert Kah oder Fräulein Menke die Charts beherrschten. Aber auch später habe ich mit Peter immer wieder im Studio gearbeitet, er taucht z.B. auch bei Das Zeichen, einem einer anderen Projekte, als Gast auf.

Wellmann: Das ist wirklich lustig, weil Peter auch ein alter Schulfreund ist. Wenn man Peter den richtigen Rahmen stellt, ist er ein Improvisationsgenie. Obendrein hat er eine so tolle Stimme. Wir dachten uns, warum nicht ein paar Kommentare zu Berlin, die wir dann genauso behandeln, zerschnipseln und loopen wie die Geräusche. Das könnte lustig sein. Und so ist das in einer Session entstanden. Peter war gut drauf und wir sagten ihm nur, wie einem Spürhund: "Such den Gully am Alexanderplatz!" Zack war die ganze Geschichte mit dem Gully da. Für mich die geniale Kurzgeschichte zum Zustand des In-der-Welt-Seins. Es ist wirklich alles drin- kürzer geht es nicht.

Schlömer: Wirklich lustig ist ja auch, daß Peter heute als Geräuschemacher arbeitet, bei einem Geräuschprojekt seiner Freunde aber als Sprecher mitmacht. Er hat wirklich nicht ein einziges Geräusch beigesteuert, der Fachmann.

SG: Was hat es eigentlich mit der "Parallelaktion" share-music auf sich?

Wellmann: Das ist eine andere Geschichte, die ich mit zwei Freunden in Köln initiiert habe. Wir haben uns über den Protektionismus der Plattenindustrie geärgert, der allen Beteiligten - auch ihr selber, nur schadet. Wir wollen den Austausch, und damit das Bekanntmachen von Musik fördern. Das ist gerade für die Kleinen wichtig, die sonst von den Großen immer draußen gehalten werden. In diesem Sinne suchen wir auch nach Musikern, die sich dieser Aktion anschließen und von uns wiederum gefördert werden. Man kann das alles auf unserer Homepage share-music.org nachlesen.

SG: Gibt es irgendwelche Zukunftspläne?

Schlömer: Nun, ich habe ja immer einige Sachen in Vorbereitung, z.B. erscheinen zur Zeit einige ältere, bisher unveröffentlichte Arbeiten von mir exklusiv auf einer Download-Seite namens bombtraxx.de. Außerdem bringe ich das Tabula Rasa-Album von 1994 selber heraus und ein neues Ornah-Mental-Album ist auch in Arbeit. Was die Zusammenarbeit mit Adrian angeht: ich denke, wir werden sicher ein neues Thema in Angriff nehmen, lassen uns aber Zeit, schließlich haben wir die erste gemeinsame CD nach 30 Jahren Freundschaft veröffentlicht. Da spielen ein paar Monate bis zum nächsten Mal keine Rolle.

Wellmann: Und das gilt auch in Zeiten der Vogelpest: über ungelegte Eier soll man nicht gackern. Für mich ist nur eines wichtig: ein neues Projekt muß ein neues Terrain erforschen um eine Herausforderung zu sein. Wiederholungen sind was für den Kommerz und keine Kunst.

***Charly Checkpoint

Interview Melodie & Rhythmus Ausgabe 11/06